Piece of Evidence
Skulptur, 2015.
Stahl, Beton.
255 x 120 x 85 cm.
Christian Keinstar. Die Zukunft der Vergänglichkeit
Eines der ersten Kunstwerke von Christian Keinstar ist eine Performance, für die er zunächst viel gegessen hat, um sich anschließend vor laufender Kamera zu erbrechen (Alles muss raus, 2001). Der natürliche Vorgang der Nahrungsaufnahme und des Verdauens wurde künstlich, mittels Medikamenten, geradezu gewaltsam unterbrochen und die Materialität der Lebensmittel transformiert – sie wurden formlos. Durch die olfaktorische Komponente und die durch den Kauvorgang zerkleinerte und für die Verdauung vorbereitete Mahlzeit kommt zudem der Aspekt der Vergänglichkeit hinzu. Anhand dieser frühen Performance können alle bis heute wesentlichen Bestandteile im Werk von Keinstar definiert werden: Materialität, Dynamik, Transformation, Energie und Vergänglichkeit bzw. Tod. Auf so innovative wie unterschiedliche Weise werden diese Aspekte und Themen von dem Künstler immer wieder aufgegriffen, variiert und innerhalb unterschiedlichster Werke und Medien weiterentwickelt. Das Prozessuale und Materialumformende wird dabei vielfach durch gesellschaftspolitische Implikationen ergänzt, wie etwa in dem Video Secondary Virgin (2013) deutlich wird, in dem der Kult der religiös aufgeladenen Bedeutung der Jungfräulichkeit thematisiert wird. Die Ausweitung von künstlerischen Materialien spielt in Werken wie Kanon 01-04 (2011-14) eine Rolle, bei dem die Dynamik und die Kraft des Magnetismus zum Einsatz kommen oder auch im Video Left Hand Path (2011), in dem Keinstar mit seiner Hand in flüssigem Blei rührt. Bei einem der neuesten Werke kommt das politisch wie wirtschaftlich zunehmend an Brisanz gewinnende Material der Seltenen Erden zur Verwendung, indem er Gallium zum Schmelzen bringt (Liberate Me, 2014).
In mehr oder weniger allen seinen Werken und Performances werden Materialien fragmentiert, dekonstruiert, transformiert, dynamisiert, ummodelliert, de-, und neu-kontextualisiert und nicht zuletzt auch in ihrer Vergänglichkeit präsentiert. Die Auswahl der verschiedensten Werkstoffe, die Schaffung von neuen materiellen wie assoziativen Zusammenhängen und das Ausloten von menschlichen Grenzbereichen ist dabei derart präzise gewählt bzw. bestimmt, dass vielen Werken von Keinstar über den Kunstkontext hinaus eine (gesellschafts-) politische Relevanz zukommt.
In Christian Keinstars Piece of Evidence (2015) wird die formale, substanzielle und auch die Bedeutungs-Ebene aufgebrochen: Dem Fenster einer gotischen Kirche nachempfunden steht die aus Beton und Armierungsstahl gefertigte, gut zweieinhalb Meter hohe Skulptur freistehend im Raum; die Struktur des Maßwerkes ist nur noch zum Teil erhalten. Nicht nur der Stahl, auch der Beton scheint von gewaltigen Kräften verzogen, verzerrt, weggebrochen und abgerissen worden zu sein. Unwillkürlich denkt man sofort an Bilder von Kirchen, die durch Erdbeben, Krieg oder Anschläge zerstört worden sind. Der italienische Künstler, Architekt und als Biograf zahlreicher Künstler einer der ersten Kunsthistoriker, Giorgio Vasari (1511-1574), führte den Begriff der Gotik in die Kunstgeschichte ein. Als Verehrer der Ästhetik der Antike verstand er alles gotische (ital. gotico; abgeleitet vom Germanenstamm der Goten) jedoch als wirr, fremdartig und barbarisch. Wie viele andere zunächst abwertend gemeinte Begriffe, erlebte auch dieser jedoch einen enormen Bedeutungswandel und steht schon lange für ein europäisches, christlich geprägtes Universalkonzept des Mittelalters für die architektonische Verbildlichung von Göttlichkeit – und der Spitzbogen ist hierfür das zentrale Motiv.
Der Künstler öffnet mit Piece of Evidence pars pro toto ein ganzes metaphorisches Konvolut an Anzeichen, Indizien, Zeugnissen und Belegen der Zerstörung, des Untergangs, des aufziehenden Endes, des Scheiterns – nicht eines konkreten architektonischen Werkes, sondern zunächst der dahinter stehenden Institution Kirche – sie wurde von Keinstar bereits in früheren Werken kritisch hinterfragt – und darüber hinaus auch ganz allgemein der verschiedenen politischen und ökonomischen Systeme. Der hier zugrunde liegende Stil der Gotik ist ein zutiefst in der europäischen Kultur verwurzeltes transdisziplinäres Konzept, in dem innovative Ideen zusammenkamen und das im übertragenden Sinn hier symbolisch ebenfalls in seiner Zerstörung präsentiert wird. Auch die Idee eines politisch und wirtschaftlich geeinten Europas steckt aktuell in der Krise. Auch gegenwärtig werden einige gesellschaftliche Entwicklungen von vielen Rückwärtsgewandten als fremdartig, verstörend und wirr empfunden; werden immer noch oder wieder Flüchtlinge, Andersgläubige und Andersfühlende ausgegrenzt, beschimpft und bekämpft. Ist Piece of Evidence auch hierfür ein adäquates Symbol? Oder ist alles nur Ironie, oder gar eine postironische Geste?
Die Ironie ist ein Angriff auf die Wahrheit, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert nur noch eine relative zu sein scheint. Dieser Entwicklung folgend kann man heute kaum noch zwischen Ernst und Ironie differenzieren; wir leben in einer Zeit der Postironie. Die Postironie kann entweder in eine Hyperironie abgleiten, die einem „zynischen Nihilismus“ entspricht, der alle Wertmaßstäbe grundsätzlich infrage stellt, oder sie kann positiv gewendet werden und die Haltung einer „Antiironie“ einnehmen *. Die Postironie wird somit zur moralischen Angelegenheit. Auch Piece of Evidence ist als moralisches Werk zu interpretieren: Es zeigt die Deformation einer prägnanten ur-europäischen Form. Sie ist zwar angeschlagen, verdeutlicht aber in ihrer Verletzung umso mehr ihre Bedürftigkeit nach Schutz, der wiederum in unserem Verantwortungsbereich liegt. Auferstanden aus Ruinen: Das kann die Zukunft dieser Form.
Andreas Beitin